25.3.2020 - 27.05.2020

Susanne Vögeli und Jeannette Fischer

Tagebuch eines Sauerteiges
Wie Mikroorganismen ein Brot bewirken

Susanne Vögeli, Raum Acht, kochen und forschen und Jeannette Fischer, Psychoanalytikerin geben im ECK eine Antwort auf Corona. Sie führen ein dialogisches Tagebuch, das ab dem 28. März auf der Webseite https://raum-acht.li verfolgt werden kann. In regelmässigen Abständen zeigt Susanne Vögeli ein frisch gebackenes Brot. Wer das Brot möchte, kann es nach Absprache abholen. Jeannette Fischer begleitet diesen Entstehungsprozess und überträgt auf menschliche Beziehungen, was Veränderung bedeutet. 

Auszug aus dem Tagebuch: 
19. März. SV: Im Mehlbrei beginnen sich die im Getreide und in der Luft vorhandenen Hefesporen und Milchsäurebakterien wohl zu fühlen und zu vermehren. Bei diesem Prozess werden Kohlenhydrate verbraucht und es bildet sich das erwünschte Co2 für die Teiglockerung. Gleichzeitig bilden die aktivierten Milchsäurebakterien Milchsäure und senken so den Ph-Wert des Getreidebreies. Dadurch werden allfällig vorhandene Sporen von Schimmelpilzen verdrängt .
JF: Der Prozess der Veränderung löst das Bestehende immerzu auf, ohne das Ganze zu gefährden. Ein verlässlicher Prozess, der in Bewegung bleibt und
auf etwas zustrebt, das uns wohltuende Nahrung verschafft. 

20.März. SV Der Getreidebrei hat kleine gelbe Flecken an der Oberfläche. Schmeckt  bereits fein säuerlich und fruchtig.
JF Bewegung heisst Belebung und bedeutet Leben. Erst im Tod hört Bewegung auf.

21. März. SV Nach so kurzer Zeit kann schon von einem Sauerteig die Rede sein. Der Teig ist jetzt aktiv und blubbert leicht. Geschmack und Geruch sind etwas intensiver fruchtig und fein säuerlich. Angenehme Gerüche von organischer Natur. 
JF Das Wunder des Prozesses geht langsam und stetig voran und bleibt intakt, ohne eine Form von Destruktion. Neues erschaffen bedeutet nicht Altes zu zerstören.

14. Mai 2020
Während das Brot reift und der Sauerteig ruht bringt der Vogel mit seinem flötenden Ruf ungewohnte, exotische Klänge in den Auenwald. Er lebt in Südostafrika und kommt nur für seine Brut an die Aare. Er sucht sich eine Umgebung mit Insektenreichtum und mit Kirschbäumen. Kirschen sind des goldgelben amselgrossen Vogels Leibspeise. Das Goldgelb seines Gefieders benötigt das Karotin aus diesen Früchten. Der melancholische Klang in der Abendstimmung am Fluss erreicht mich. SV
Diese Stille will nichts von mir. JF

17. Mai 2020: Bereits in der Steinzeit wurden Brote gebacken. Abgebildet ist das berühmte Brot von Twann am Bielersee aus der Zeit um 3530 vor Christus. Es war ein Sauerteigbrot aus feinem Weizenmehl. Mischbrote aus Weizen- und Gerstenmehl wurden auch gefunden.
Überholen Sie die Zeit, dann sind Sie schneller. JF

Das ganze Tagebuch und die Brotrezepte auf https://raum-acht.li 

Jeannette Fischer ist Freud’sche Psychoanalytikerin und arbeitete 30 Jahre in eigener Praxis in Zürich. Sie hat einen Dokumentarfilm über die Mutter-Tochter-Beziehung gemacht, wobei die Mutter ein ehemaliges Verdingkind ist: Lisa und Yvonne. Sie hat ein Buch über Angst geschrieben und eines über die Perfomancekünstlerin Marina Abramovic. Zur Zeit arbeitet sie an einem Buch über Hass.

RAUM ACHT in Aarau heisst der Werkplatz von Susanne Vögeli. Hier wird recherchiert, analysiert, erprobt, diskutiert und nicht zuletzt auch gekocht und gespiesen. Die Vielfalt der Lebensmittel wird erkundet, um die komplexen Techniken der Verarbeitung in der Küche zu verstehen. Susanne Vögeli verfolgt die Wirkung von Lebensumständen auf die Ernährung und die dadurch veränderte Esskultur. Und wiederum die veränderte Esskultur auf die Lebensumstände. Mit den kulinarischen Ergebnissen ihrer Arbeiten veranstaltet sie kleine Kochshows, Degustationsrunden und Tafelrunden im RAUM ACHT

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